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1 September 2016

Patientengeschichte von meinem Vater, der andere Menschen belästigt

Mein Vater hat schwere Parkinson. Letztes Wochenende geriet er deshalb in große Schwierigkeiten. Er und wir als seine Familie sind von diesem Vorfall völlig fertig. Ich möchte diese Geschichte irgendwie loswerden und habe deshalb einen Brief geschrieben. Eigentlich weiß ich nicht so genau warum, aber dieses Erlebnis ich würde ich gerne mit Ihnen teilen. 

Es ist Samstagabend, der 08. August gegen 21.00 Uhr und mein Vater fährt mit dem Rad vom Krankenhaus nach Hause. Er war zu Besuch bei einem Freund, der auch Parkinson hat und einen Fahrradunfall erlitten hatte. Mein Vater fühlt sich wohl und an diesem Abend arbeitet sein Körper ohne Weiteres mit. Das allein ist schon eine Besonderheit, denn in der letzten Zeit konnte er seinen Körper nur noch sporadisch und mit großer Mühe unter Kontrolle halten.

Angezogen von einem herrlichen Sonnenuntergang und seiner Liebe zur Fotografie, die er wegen seiner Krankheit nicht mehr ausüben kann, hält er bei der Fahrradbrücke in Konstanz an. Unten am Ufer ist oft eine gesellige Betriebsamkeit. Kinder schwimmen und springen ins Wasser, Menschen, die ihr Boot angelegt haben und miteinander einen Plausch abhalten. Mein Vater nimmt sein Handy aus der Tasche und will ein paar Fotos vom herrlichen Sonnenuntergang machen. Während er sich auf das Ufer zubewegt,  schüttelt sein Körper sich und bewegt in alle Richtungen. Manchmal stolpert er und fällt beinahe zu Boden, ähnlich wie bei einem betrunkenen Mann. Er steht an der Anlegestelle und ärgert sich darüber, dass mal wieder Müll liegen gelassen wurde. Er selbst kann den Abfall nicht wegräumen und weiß auch nicht, wer ihn hinterlassen hat, sodass er diejenigen ansprechen kann. Schwankend geht er weiter, um ein paar Fotos zu machen.

Auf einmal bemerkt er, etwas weiter weg, eine Gruppe aufgeregter Badegäste. Mein Vater versteht nicht ganz, was dort los ist, denn wegen seiner Krankheit und der Einnahme von Medikamenten ist sein Einschätzungs- und Reaktionsvermögen verlangsamt, doch er bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aus dieser kleinen Gruppe fährt ein junger Mann mit seinem Motorroller auf ihn zu und fragt: „Was machen Sie hier?“ Mein Vater erklärt ihm sofort, dass er nur ein paar Fotos vom Sonnenuntergang machen will und das er Parkinson hat und deswegen manchmal etwas komisch aussieht. Er erzählt dies, weil er oft als betrunken oder verrückt angesehen wird und aus seiner Erfahrung weiß, dass eine kurze Erklärung oft hilft. Unverrichteter Dinge fährt der junge Mann wieder zurück zu den anderen Leuten und mein Vater geht davon aus, dass das Missverständnis nun geklärt ist …

… Aber weit gefehlt … Plötzlich kommt ein Motorradpolizist auf meinen Vater zu. Der Polizist erklärt meinem Vater, dass es in der Gegend bereits sexuelle Belästigungen gegeben hat und er soll sich doch ausweisen. Mein Vater und der Polizist stehen mehr oder weniger zwischen den Badegästen und er fühlt, dass die Stimmung immer grimmiger wird. Ihm wird plötzlich bewusst, dass die Polizei nur wegen ihm gerufen wurde, weil man denkt, er sei ein Vergewaltiger. Seine Panik wird nun groß und unschlüssig bleibt er beim Polizisten stehen. Durch den Stress schüttelt und zuckt sein Körper nur noch mehr. Er fühlt sich dazu gezwungen, sich selbst und seine Absichten erneut zu erklären, aber das gelingt ihm nicht mehr so gut.

In der Zwischenzeit wurde meine Mutter vom Polizeibüro angerufen und gebeten, sie möge meinen Vater doch abholen. Meine Mutter nimmt das Rad (sie kann kein Auto fahren) und radelt so schnell wie sie kann zu meinem Vater.

Inzwischen fühlt mein Vater sich sehr elendig und ist ängstlich. Der Polizist bleibt in der Nähe meines Vaters, der sich zunehmend unsicherer zwischen den Menschen fühlt. Er befürchtet, dass sie ihn fotografieren und die Bilder auf Facebook posten, mit der Bemerkung, dass er Menschen sexuell belästigt. Mein Vater erklärt dem Polzisten, dass er nicht mehr länger warten will, und setzt sich aufs Rad. Im Beisein des Polizisten fast mein Vater den Beschluss, durch die Menschengruppe zu fahren, was ihm dann auch gelingt. Voller Panik radelt mein Vater so schnell er kann davon und der Polizist folgt ihm. Später erzählte der Polizist, dass er meinem Vater einen Strafzettel für zu schnelles Fahren mit dem E-Bike (über 25 km) erteilen wollte. Aber er wartete ab, um zu sehen, was nun wirklich los war.

Zu Hause angekommen kann mein Vater vor lauter Aufregung die Haustüre nicht öffnen. Voller Panik läuft er zu den Nachbarn, um diese um Hilfe zu bitten. Aber sie sind nicht Zuhause. Glücklicherweise erkennt eine andere Nachbarin sofort, in welcher Not mein Vater ist und hilft ihm die Türe zu öffnen. Mein Vater sieht, dass meine Mutter nicht im Haus ist und stolpert wieder nach draußen, um nach ihr zu suchen. Als er sie draußen nicht finden kann, will er wieder ins Haus. Wiederum gelingt es ihm nicht, die Türe zu öffnen und nur mithilfe der freundlichen Nachbarin kann er letztendlich ins Haus. Der Motorradpolizist fährt meiner Mutter entgegen und trifft sie unterwegs. Sie erzählt dem Polizisten, so wie zuvor mein Vater, dass er ernsthaft krank sei und weil er sich wohlfühlte, etwas Rad fahren wollte. Sie sagt ihm auch, dass er nie und nimmer jemanden etwas Böses wollte. Der Polizist reagiert zum Glück verständnisvoll.

Zurück aus dem Urlaub, besuche ich immer sofort meine Eltern. Ich treffe meinen Vater mit traurigen und matten Augen auf dem Sofa an. An diesem Morgen brauchte mein Vater drei Stunden, um aus dem Bett zu kommen und war bereits total erschöpft, noch bevor der Tag begonnen hat. Ich höre sein Erlebnis an der Fahrradbrücke. Wut und Traurigkeit schnüren mir die Kehle zu. Am liebsten wäre ich sofort zum „Schauplatz des Verbrechens“ gelaufen. Ich wollte dort allen Menschen die Wahrheit über meinen Vater und seiner Krankheit erzählen – aber einen Tag später macht das natürlich keinen Sinn mehr.

Mein Vater ….. ist krank!! Schwer erkrankt – an einer verdammten neurologischen Krankheit, die Parkinson genannt wird. Mein Vater hat zwei Töchter und Enkelinnen. Er hat 25 Jahre in einer Sonderschule gearbeitet und Schulkindern mit Lernschwierigkeiten eine positive Lernumgebung ermöglicht. Mein Vater ist EIN UNBESCHOLTENER MANN, der manchmal noch recht gute Momente in seinem Leben hat – doch leider seit jenem Abend nicht mehr. Oh nein, doch nicht so ganz. Denn während meiner Pubertät war mein Vater ein recht nerviger Mann. Jedes Mal bestand er darauf, mich von der Disco abzuholen. Er wollte mich nämlich beschützen – schützen vor Männern, die Frauen belästigen. Und genau wegen solch einer Belästigung wird es jetzt beschuldigt. Er ist niedergeschlagen und deprimiert. „Ich bin doch nicht so ein Mann, der andere Menschen belästigt und bedrängt?“, kann er nur noch sagen. Mein Vater hat Angst, dass er nun als ein widerlicher Kerl „im System“ steht. Der Gedanke, dass die Polizei so über ihn urteilt – die Polizei, für die er als junger Mann gearbeitet und so viel Respekt hatte, macht ihn jetzt noch mehr fertig.

Um Himmels willen Leute …! Wo ist eurer gesunder Menschenverstand? Klar, ich kann es verstehen: ein komisch schwankender Mann, der Fotos macht und eine Umwelt, die voller Menschen mit falschen Absichten ist … doch sollte man erst mit dem Mann sprechen, bevor man falsche Schlüsse zieht. Fragen, was er gerade macht. Sagen, dass man ängstlich ist, weil er sich so komisch bewegt und gebt ihm die Chance alles zu erklären. Nicht jeder ist schlecht, denn manche Menschen sind nämlich sehr krank!! Übrigens ist es nicht das erste Mal. Mein Vater wurde schon einmal während eines Spaziergangs bedroht und als Trunkenbold beschimpft.

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass „man“ die Polizei angerufen und gemeldet hat, dass ein komischer Mann Leute belästigt. (Schon seltsam, denn mein Vater stand weit weg von den Badegästen, als er die Fotos machen wollte). Sein komisches Verhalten viel deswegen auf, weil es kürzlich Vorfälle bei der Fahrradbrücke gab und mein Vater deswegen sofort unter Verdacht geriet. Die Polizei hatte zum Glück die richtige Schlussfolgerung gezogen und protokolliert, dass ein Missverständnis vorlag und keine weiteren Schritte folgen werden. Außerdem wurde noch festgehalten, dass mein Vater Alzheimer hätte – aber es ist doch Parkinson. Ich bin verärgert, wütend und enttäuscht darüber, wie die Leute sich gegenseitig aufgestachelt und vergessen haben, dass noch mehr Schritte nötig sind, um jemand zu beschuldigen.

Zum Glück gibt es einen Lichtblick, denn er wird im September operiert. Eine Hirnoperation, um die Symptome seiner Krankheit zu bekämpfen. Bis dahin darf er nicht mehr mit dem Rad fahren und sein Schicksal ist nun, zu Hause zu sitzen und nichts mehr tun. Aber ja, das spielt keine Rolle mehr, denn die Lust vor die Türe zu gehen ist jetzt (vor lauter Angst) weg.

Es tut mir leid Papa, das Dir so etwas passieren musste. Es tut mir leid, dass in unserer Gesellschaft kein Platz für sich seltsam bewegende Menschen ist, die nur ein paar Fotos vom Sonnenuntergang machen wollen. Es tut mir so leid …

Angelika Seiler,
Konstanz

 

 

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