Spenden
1 Januar 2000

PATIENTEN-PORTRÄT – KALLE SALLHOFEN

21 Jahre lang arbeitete er als Postbank-Beamter im mittleren Dienst, zuletzt im EDV-Bereich.

Erst vor einigen Jahren führte Parkinson zur Dienstunfähigkeit und seit einiger Zeit muss er auch nachts das Medikament ‚L-Dopa‘ einnehmen: „Daran kann man sehen, dass sich die Krankheit auch nach 41 Jahren noch weiter entwickelt.“Es geht ihm im Allgemeinen gut, nur manche Tätigkeiten wie das Sauber halten seiner Wohnung fallen ihm schwer: „Ich kann nur das Nötigste, das Grobe, machen. “Er ist froh, dass es Menschen in seinem Leben gibt, die ihm Kraft geben: „Die Anwesenheit, das Dasein von Freunden und/oder Angehörigen gibt mir sehr viel Energie. Das hält mich auf Trab.“ Seine 51. Geburtstagsfeier genoss er deshalb sehr. Schwer war es, wieder alleine zu sein: „Während der Party ging es mir durchgängig gut, aber als meine Gäste wieder weg waren, bin ich mal wieder zusammengesackt und brauchte ca. anderthalb Stunden, um mich aufzurappeln.“ Zum Glück hat Kalle Sallhofen einen großen Freundeskreis und nach wie vor ein sehr enges und gutes Verhältnis zu seiner Familie, die ihm heute wie damals, als er erkrankte, zur Seite steht.

Sommer 1975

Kurz nach meinem 9. Geburtstag, ich saß vor meinen Hausaufgaben, sagte eine der Erzieherinnen, ich hätte Besuch. Ein Ehepaar, das mich kennenlernen möchte. Zu Erika und Egon hatte ich sehr schnell einen Bezug und Vertrauen. Ich verbrachte mit ihnen einen wunderschönen Tag außerhalb des Kinderheims, habe mit ihnen Minigolf gespielt, Eis gegessen und Cola getrunken.

Sie erzählten mir von ihren Kindern und dass sie mich bald zu einem Besuch abholen würden. Dass ich mich darauf gefreut habe, das weiß ich heute noch, als wäre es gestern gewesen! Ich fieberte diesem Tag entgegen. Als wir in Isernhagen ankamen, wartete Gerold schon vor dem Haus. Auch zu ihm hatte ich schnell einen Draht, wie zu allen anderen Geschwistern. Gerold erzählte, ich sei sehr wortkarg gewesen, aber ich kann mich erinnern, dass ich mich sehr wohl gefühlt hatte.

Glück im Unglück

Als ich endgültig in die Familie kam, machten sich schon nach kurzer Zeit die ersten Beschwerden meiner Krankheit bemerkbar: Ständige Schmerzen im Brustkorb, besonders, wenn ich schnell gelaufen bin. In der Familie machte eine Sommergrippe die Runde, doch dass es mich so schlimm treffen würde, konnte niemand ahnen. Es begann mit den typischen Grippesymptomen, doch als mir beim Toilettengang die Beine versagten und ich nicht mehr vom Klo aufstehen konnte, wurde klar, dass das keine normale Grippe war.

Der Hausarzt war ratlos, so kam ich ins Krankenhaus. Ich muss wohl das Bewusstsein verloren haben. Als ich wieder wach wurde, hing ich am Tropf und konnte mich nicht bewegen. Ganz besonders erinnere ich mich an einen Besuch von Thomas, der mir mit seinen Daumen die Kummerfalten auf der Stirn zu glätten versuchte.

Eines Morgens konnte ich leise „Guten Morgen“ flüstern. Und als Erika zu Besuch kam, gelang mir das Wort „Durst“. Mit einer Schnabeltasse klappte das Trinken ganz gut, so wurde die Magensonde entfernt und Erika versuchte, mich mit weichem Brot zu füttern. Ich konnte aber nicht richtig kauen, so wurde die Sonde erneut eingeführt. Ich hasste diese Prozedur, sie löste immer einen fürchterlichen Würgereiz aus.

„Nach vier Monaten Krankenhaus kam ich nun nach Hause, im Rollstuhl.“

Bald darauf saß ich das erste Mal im Rollstuhl und es war herrlich,  das Zimmer verlassen zu können. Ein junger Mann ist mit mir durch die Flure geprescht und ich konnte wieder lachen.

In all dem Unglück hatte ich das Glück, dass es diese Familie war, die mich mit allen Konsequenzen aufgenommen hatte. Wenn ich daran denke, all das wäre in einer anderen Familie oder gar im Heim passiert, wird mir noch heute ganz mulmig. Erika erzählte mir Jahre später, dass das Jugendamt Cuxhaven quasi angeboten hatte, mich gegen ein gesundes Kind auszutauschen. Doch damit waren sie bei dieser Familie an der falschen Adresse.

Weihnachten 1975

Nach vier Monaten Krankenhaus kam ich nun nach Hause, im Rollstuhl. Ich fühlte mich zwar sehr wohl wieder im Kreise der Familie zu sein, aber meine Lage ließ mich immer wieder verzweifeln. Ich konnte so gut wie gar nichts mehr. Gerold kümmerte sich sehr viel und sehr intensiv um mich und brachte mich sehr oft zum Lachen.

Im Juni 1976 kam ich dann in die Rehaklinik nach Schömberg. Als Erika und Egon nach der Aufnahme das Haus verließen, war ich so verzweifelt, dass ich stundenlang weinte, bis ich nicht mehr konnte. Ich fühlte mich allein gelassen. Die ersten Wochen empfand ich alsabsoluten Horror. All die fremden Menschen und anderen behinderten Kinder.

Das Wunder

An meinem Zustand änderte sich kaum etwas. Dann bekam ich ein neues Medikament, das mein Leben schlagartig veränderte. Den ganzen Morgen wunderte ich mich, dass ich so gut drauf war. Ich konnte auf einmal viel besser sprechen, sabberte nicht mehr und hatte das Gefühl, ich könnte aus dem Rollstuhl aussteigen, traute mich aber nicht. Als ich vom Therapiereiten zurückkam, wollte ich auf einem Stuhl sitzen. Werner, der Zivildienstleistende, der mich mit seiner typisch schwäbischen Art immer zum Lachen brachte, zögerte erst verdutzt, hob mich aber aus dem Rollstuhl und stellte mich hin. Jetzt sagte ich: „Du kannst mich loslassen, ich kann laufen“. Er rief noch ein lang gezogenes „Kaaalllliiiii“ hinter mir her, aber ich war schon unterwegs, ging aber nach wenigen Metern in die Knie, da meine gesamte Beinmuskulatur viel zu schwach war, um mich länger zu tragen.

Es war ein riesen ’’Hallo“ auf der Station, alle wollten mich laufen sehen. Ich hatte nur einen Gedanken: zu Hause anrufen! Es war unglaublich: Am Morgen ein Häufchen Elend im Rollstuhl und ein paar Stunden später laufe ich durch die Gegend!

Höhen und Tiefen

Ich dachte, ich wäre geheilt! Und als die Wirkung des Medikaments (Mardopa) nachließ und ich wieder im Rollstuhl sitzen musste, war ich am Boden zerstört. Bald stellte sich heraus: das Medikament bzw. die Dosis waren viel zu stark und durch die Nebenwirkungen verlor ich wieder die Kontrolle übermeinen Körper. Vorher konnte ich mich kaum bewegen, jetzt waren die Bewegungen nicht mehr zustoppen. Meine linke Körperhälfte machte sich quasi selbstständig mit schlagenden und zuckenden Bewegungen. Und sobald die Wirkung des Medikaments aufhörte, war meine Körpersteife schlimmer als zuvor. Ich konnte nicht mehr lange im Rollstuhl sitzen, da sich meine Beine extrem versteiften. Das war noch Jahre später so schlimm, dass ich mir manchmal wünschte, keine Beine zu haben.

Erst Anfang der 90er wurde ich auf Nacom umgestellt, da Larodopa (die schwächere Variante von Mardopa) nicht mehr hergestellt wurde. Mit Nacom und später mit Levodopa verschwanden langsam die schlimmsten Nebenwirkungen, allerdings treten nach wie vor Tremor (Zittern) und Rigor (Muskelsteife) bei Nachlassen der Wirkung auf. Allein durch die Nichteinnahme der Medikamente würde sich die Zeit innerhalb von etwa einer Stunde um Jahre zurückdrehen und ich wäre wieder der 9-jährige Junge aus dem Jahre 1975.

Diesen Artikel teilen